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Geben und Nehmen

Und was passiert mit der Führung, wenn diese aus dem Gleichgewicht sind?

Wie Führungsfähigkeiten der Stufe 2 entstehen

Bedürfnisse bei sich selbst wahrnehmen zu können, bewahrt uns vor jeglicher Art von Überforderung im schlimmsten Fall vor Burn-Out. Führungsfähigkeiten der Stufe 2 aus entwicklungspsychologischer Sicht beinhaltet die Empathie für sich selbst. Eine psychisch gesunde, resiliente und erwachsene Führungsperson hat ein klares Gespür dafür, was sie braucht und wie sie handeln muss, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Im Führungskontext kann sie sowohl geben als auch nehmen und schafft es dabei auf sich selbst und die Mitarbeiter achtzugeben. Hier wird deutlich, dass die Selbstführung (=Resilienz) als Basis für die Führung anderer Menschen wieder einmal von äußerster Notwendigkeit ist.

In diesem Blogartikel geht es um die entwicklungspsychologische = artgerechte = dem Menschen gerecht werdende Betrachtung der im Fachjargon als „verzweifelte Position“ bezeichnete Ausprägung der sogenannten Bedürfnisstruktur. Die Position, die Schwierigkeiten hat, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Sie prägt sich im Alter zwischen einem und 18 Monaten aus. Wie immer steige ich mit einer plastischen Geschichte ein, die zeigt, welches Führungsverhalten u.a. auf diese psychische Position zurückgeführt werden kann. In meiner Geschichte gehe ich in eine starke Übertreibung, um die Grundthemen klar ersichtlich herauszuarbeiten.

Wer an dieser Stelle die Betrachtung von Führungskräften vermisst, die im umgekehrten Fall ihre Mitarbeiter ausnutzen und wenig Empathie für diese aufbringen können, mag sich noch etwas gedulden. Denn diese Ausprägung bildet sich erst im Alter der Willensstruktur (2 – 4 Jahre), deshalb werde ich diesen Typus erst in einem späteren Blog-Artikel analysieren.

 

Die Fähigkeit, Ja und Nein sagen zu können

Eine frei erfundene Geschichte zum Einstieg:

Es war einmal eine Teamleiterin in einem Altersheim. Sie hieß Barbara. Für andere Menschen da zu sein, war selbstverständlich für sie und der Pflegeberuf stiftete ihr Sinn und Erfüllung. Nun hatte die Pflegebranche wie viele andere soziale Berufe ein echtes Personal- und auch Nachwuchsproblem und so kam es, dass sie in ihrem Tages- und Nachtablauf extrem fremdgesteuert war, da ständig irgendwo Not am Mann war und sie wie sie selbst sagte „gerne einsprang, um zu helfen“. Pausen machte sie nur, wenn die Station ausreichend besetzt war und das kam so gut wie nie vor. Am Ende des Jahres hatte sie regelmäßig zu viel Resturlaub übrig, den sie nicht nehmen konnte, weil sie sich bei der chronischen Unterbesetzung des Hauses verantwortlich fühlte gegenüber den Heimbewohnern und auch ihre Kollegen, die ja schließlich auch Urlaub nehmen mussten. Wenn sie jemanden mal zu einem Dienst einteilen musste, der vom Plan abwich, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Manchmal saß sie in ihrem Büro starrte resigniert an die Wand und fragte sich, warum es ihr so schwer fiel, um Hilfe zu bitten. Sie machte einfach immer weiter und funktionierte, ohne Empfinden für ihren eigenen Rhythmus und blind für die eigene Überforderung, in der sie sich bereits gewohnheitsmäßig befand. Manchmal nahm sie sich vor, ein bisschen früher nach Hause zu gehen, was ihr aber in der Regel misslang, weil sie ja sah, was noch alles getan werden musste. Sie hatte Angst davor abgelehnt zu werden, falls sie ihre eigenen Wünsche ganz selten einmal äußerte. Außerdem konnte sie förmlich alle Erwartungen, die andere Menschen einschließlich der Heimleitung und der Kollegen an sie hatten als Druck spüren, der auf ihr lastete und erst verschwand, wenn sie sie erfüllt hatte.

Ihr Mann warf ihr manchmal vor, sich ausnutzen zu lassen, aber sie sah das ganz anders, denn sie wurde doch gebraucht. Dabei kam ihr nicht in den Sinn daran zu denken, was sie selbst brauchen könnte. Menschen, die auf ihre eigenen Bedürfnisse achteten und es schafften, diese auch vehement durchzusetzen, empfand sie als egoistisch. So wie ihre Kollegin Birgit, die auf ihren 14-tägigen Urlaub bestand und ihn im Team verteidigte, bis sie ihn bekam. Unglaublich, obwohl Birgit Familie hatte, nahm sie sich auch noch heraus, alleine in Urlaub zu gehen!

Wenn Barbara zuhause war, opferte sie sich für ihren Mann und die zwei Kinder auf. Sie hatte in der ganzen Woche keine einzige Stunde für sich zur Verfügung und akzeptierte das als Normalzustand bzw. war sogar stolz darauf, was sie alles „schaffte“. Ab und an kam sie an einen Punkt der Verzweiflung, an dem sie sich fragte, warum sie immer leer ausging, wenn es um ihre eigenen Wünsche ging. Und warum sie es nicht schaffte, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Manchmal, wenn sie lange Zeit am Stück nicht auf sich selbst geachtet hatte, staute sich die ganze Verzweiflung in ihr an und brach explosionsartig aus ihr heraus. Dann schrie sie ihren Mann und ihre Kinder an, um sich gleich hinterher wieder dafür zu schämen und wieder nichts zu ändern.

Als Ersatzbedürfnisbefriedigung rauchte sie die ein oder andere Zigarette um „runterzukommen“ und verleibte sich während der Arbeit Süßes in allen Formen ein, was sie von Jahr zu Jahr gewichtiger werden ließ.

Auch im Bereich der Sexualität konnte sie nicht darüber sprechen, was ihr Bedürfnis war. Sie stand ihrem Mann ab und zu zur Verfügung („das macht man in einer guten Ehe so“), konnte aber nicht von sich aus auf ihn zugehen, um zu zeigen, was sie brauchte, um von der Beziehung im Allgemeinen und dem Sex im Besonderen erfüllt zu sein.

 

Ihre Mitarbeiter sagten über sie:

„Barbara ist ein total liebevoller Mensch. Sie hat immer Verständnis für unsere Sorgen und Wünsche.“

„Sie ist ein total positiver Mensch.“

„Sie ist sehr empathisch und hat für jeden ein offenes Ohr.“

„Manchmal kommt es mir so vor, als mache sie mein Problem zu ihrem.“

„Sie ist ein sehr nahbarer Mensch.“

„Sie versucht, für alles eine Lösung zu finden und gibt meist mehr als alle anderen aus dem Team.“

„Es fällt ihr schwer, Hilfe und Unterstützung anzunehmen.“

„Sie hat eindeutig ein Helfersyndrom. Aber haben wir das nicht alle ein bisschen in den sozialen Berufen?  😉  „

 

Über sich selbst und ihre Haltung sagt Barbara:

„Ich weiß einfach nicht, was ich brauche.“

„Wenn der andere glücklich ist, bin ich auch glücklich. Das reicht mir.“

„Ich bin stolz darauf, so wenig Ansprüche zu haben.“

„Ich mache oft gute Miene zum bösen Spiel.“

„Ich fühle mich oft von anderen im Stich gelassen und weiß nicht, wie ich das ändern kann.“

„Andere sollten doch erkennen, was ich brauche!“

„Ich kann die Bedürfnisse anderer Menschen besser erkennen als meine eigenen.“

„Ich fühle mich oft energielos und resigniert.“

„Egoistische Menschen triggern mich.“

 

Ihre Mutter erzählt über sie:

„Barbara kam in den 70gern zur Welt. Da war es nicht ‚in‘ zu stillen. Sie hat die Flasche bekommen. Ich war froh drum. Ihr Vater war damals viel im Außendienst unterwegs und ich war alleine mit ihr und ihrer Schwester. Ich hatte so viel zu tun. Das Haus, der Garten, die Wäsche. Abends war ich erschöpft. Ich habe den Kindern zum Glück früh beigebracht, dass sie mich mit ihrem Geschrei nicht manipulieren können. Ich habe beide Kinder lange in ihrem Bett schreien lassen. Es hat sich gelohnt, denn irgendwann kehrte Ruhe ein. Was glauben die denn, wer sie sind? Als sie älter waren, habe ich ihnen beigebracht, die Zähne zusammenzubeißen. Schließlich wird einem ja nichts geschenkt im Leben! Rumgeheule und Gejammere waren bei mir fehl am Platz. Da hab ich ihnen den Kopf gewaschen. Hat sie abgehärtet, würd´ ich sagen. Sie wissen heute beide, wie man richtig arbeitet.“

 

Wie Menschen mit Helfersyndrom geboren werden

Was ich als therapeutischer und körperorientierter Coach an Barbaras Beispiel deutlich machen möchte:

Barbara hat das, was wir in der Umgangssprache „Helfersyndrom“ nennen und keine Selbstwahrnehmung für ihre eigenen Bedürfnisse. Meine starke Überzeichnung in der Geschichte fasst die Hauptaspekte zusammen, an denen wir dies in der Führung erkennen können. Barbara führt so gut wie überhaupt nicht, sondern erledigt fast alles selbst, und dies nicht nur im Notfall sondern generell. Sie wurde Teamleiterin, weil sie zum einen immer vollen Einsatz zeigte, aber auch zum anderen aus Mangel an personellen Alternativen. Entwicklungspsychologisch wird diese Charakterstruktur als >verzweifelte Position< bezeichnet, weil sie in der Verzweiflung gefangen ist, nie zu bekommen, was sie wirklich braucht. Und auch keinen Ausweg aus dieser Situation findet. Sie ist die >erste Position< der Bedürfnisstruktur. Die theoretische Erläuterung, warum diese Positionen als erste und zweite Position bezeichnet werden, findet sich in Führungs-Häppchen 6 „Warum Unternehmen therapeutisches Coaching brauchen“. Hier nochmal kurz zusammengefasst: Zuerst muss sich die psychische Fähigkeit an sich etablieren, seine eigenen Bedürfnisse bei sich selbst wahrnehmen zu können (= 1. Position), um sie dann in Kontakt zu bringen (2. Position).

 

Wie kommt die verzweifelte Position zustande?

Wie bereits oben erwähnt, prägt sich ab dem ersten bis etwa zum 18. Lebensmonat die Bedürfnisstruktur aus. Die psychische Struktur, in der sich entscheidet, wie sehr wir in unserem Leben auf unsere Bedürfnisse, unseren eigenen Rhythmus und Raum achten werden. In den ersten 1,5 Jahren entwickelt sich über die Spiegelung durch die Eltern:

  • Der eigene Rhythmus:
  1. Schlaf-Wach-Rhythmus è das Kind darf in Ruhe schlafen, wann es will, anstatt es im Maxicosi aufs Oktoberfest und ähnliches mitzuschleppen. Ich bringe dieses Beispiel, weil ich gerade heute gehört habe, dass eine Mutter es als „cool“ bezeichnete, dass ihre Bekannte ihr Kind mit zum Feiern brachte. An diesem Beispiel wird deutlich, wie es sich äußert, wenn die Mutter ihr Party-Bedürfnis über das Schlaf- und Ruhebedürfnis des Kindes stellt.
  2. Hunger-Sättigungs-Rhythmus è das Kind bekommt Essen/die Brust, wenn es Hunger hat und man hört auf, es zu füttern, wenn es sich z. B. abwendet oder anders signalisiert, dass es satt ist.
  • „Ja“ und „Nein“ sagen können è Diese Fähigkeit legt sich an, indem die Eltern das „Ja“ UND das „Nein“ des Kindes akzeptieren
  • Ausgleich zwischen Geben und Nehmen

 

Barbara hatte eine Mutter, die emotional abwesend war, d.h. keine Regung zeigte, wenn das Kind z. B. durch Schreien auf seine Bedürfnisse aufmerksam machte oder die Arme ausstreckte, um auf den Arm genommen zu werden. Das Baby lernt so, seine Bedürfnisse an das anzupassen, was verfügbar ist. Und es resigniert. Dies ist die einzige Überlebensstrategie, die dem Baby übrigbleibt. Auch beim Erwachsenwerden wurde Barbara noch von der Mutter aufgefordert, ihre Bedürfnisse zu negieren, indem sie z. B. die Zähne zusammen beißen sollte. Das Recht auf Bedürfniserfüllung konnte sich so nie in Barbaras Psyche etablieren. In ihrem impliziten Gedächtnis wurde folgendes gespeichert:

  • „Ich habe kein Recht auf Bedürfniserfüllung.“
  • „Ich muss meine Bedürfnisse ignorieren, sonst verliere ich den Kontakt/sonst überlebe ich nicht.“
  • „Ich fühle mich verlassen.“
  • „Wenn ich schreie/die Arme hebe bringt es nichts.“
  • „Mein ‚Nein‘/‘Ja‘ wird nicht akzeptiert.“
  • „Der Rhythmus der anderen ist wichtiger als mein eigener.“
  • „Meine Grenzen werden nicht respektiert.“

 

Menschen auf der verzweifelten Position haben in der Regel folgende Entwicklungsthemen:

  • Orientierung am inneren anstatt am äußeren Takt. (Um sich nicht mehr „getrieben“ zu fühlen).
  • Aufbau von „Zentrierung“ (=Selbstgespür, Selbstwahrnehmung). Die Basis, um die eigenen Bedürfnisse spüren zu können.
  • Zwischen den eigenen und den fremden Bedürfnisse unterscheiden können.
  • Vertrauen in die eigene Bedürfnisbefriedigung.
  • „Nein“ sagen lernen.
  • Gleichgewicht herstellen zwischen Geben und Nehmen.
  • Aus Symbiosen = verschmelzendem Kontakt ausbrechen.
  • Lernen Angebote oder Hilfe anzunehmen und zu absorbieren, um sich danach voll und satt fühlen.
  • Eine Kapazität für Zufriedenheit entwickeln.

 

Führung verkörpern

 Im Führungskontext können daraus folgende Defizite resultieren (siehe Paradebeispiel Barbara):

  • Führung wird kaum verkörpert. Etwas von anderen Menschen im Führungskontext einzufordern (Einsatz, Zeit, Verantwortung etc.) widerstrebt ihnen, da sie ihnen eher helfen, als ihnen etwas abverlangen wollen.
  • Sie führen selbstlos.
  • Die eigene Überforderung wird nicht erkannt.
  • Sie opfern sich für das Unternehmen, die Menschen, die Kollegen auf und sind stolz darauf.
  • Sie werden oft Opfer von Energiefressern, weil sie diesen keinen Einhalt gebieten können/keine Grenze aufzeigen können.

 

Folgende Fähigkeiten gilt es für die verzweifelte Position zu würdigen

Niemals sollte der Mensch denken, er sei „falsch“!

Es ist immens wichtig, alle Ressourcen und Fähigkeiten, die ein Mensch bereits mitbringt anzuerkennen und zu würdigen. Diese bleiben selbstverständlich erhalten, auch wenn sich der Mensch weiterentwickelt. Im Sinne meines ganzheitlichen und körperresilienten Führungsansatzes geht es nie darum „etwas wegzucoachen“. Dies wäre ein kräftezehrender Kampf gegen das eigenen Wesen, der sogar die innere Abspaltung fördern kann. Sondern vielmehr geht es um Integration bzw. Re-Integration. Also Ressourcen und Fähigkeiten zum Leben zu erwecken oder wiederzubeleben. Es sollte darum in Ergänzungen, Updates oder Entfaltung gedacht werden.

Fähigkeiten und Talente der verzweifelten Position:

  • Liebevoll und zugewandt
  • Empathisch und mitfühlend
  • Sorgend, fürsorglich, sind gerne für andere da
  • Sind selbstlos
  • Gutes spiegeln der Bedürfnisse anderer
  • Zurückhaltung und Anpassungsfähigkeit

Die Würdigung dieser Fähigkeiten ist die Grundlage, mit der bei mir jedes Coaching beginnt. Wir suchen gemeinsam Situationen, in denen diese Fähigkeiten auf positive Weise sichtbar werden.

 

Körperresiliente, artgerechte Lösungsansätze – was man tun kann

Aufgrund des Aufbaus unseres Gehirns (genaue Erläuterung dazu in meinem Buch), ist eine Herangehensweise auf der Verhaltensebene oder auch mentalen Ebene, wie es die meisten Business-Coaches machen, umso weniger zielführend, je tiefer die hinderlichen Prägungen aus unseren ersten Lebensmonaten sitzen.

Wenn Barbara mit ihren Themen zu mir ins therapeutische, körperorientierte Coaching käme, würde ich also wenig auf der inhaltlichen Ebene arbeiten, sondern über den Körper die alten hinderlichen Prägungen mit neuen nützlichen Prägungen „überschreiben“.

 

Meine Herangehensweise wäre dann in etwa wie folgt:

  1. Standortbestimmung und Würdigung von dem, was ist

Zur Standortbestimmung gehört zum einen die Würdigung aller oben genannten Fähigkeiten, inklusive sie als grundlegend gut und wichtig anzuerkennen. Fähigkeiten über die in der heutigen Zeit nicht automatisch jeder verfügt. Oft kommen die Klienten aus einer extremen Phase der Verzweiflung zu mir und äußern so etwas wie eine generelle Unzufriedenheit, die sich durch ihr Leben zieht. Oder klagen auch über Energielosigkeit, die sie sich nicht erklären können. Hier ist es wichtig, ihnen bewusst zu machen, dass es nicht darum geht, jetzt den genauen Gegenpol einzunehmen, also übertrieben egoistisch oder opportunistisch zu werden, sondern eine ausgeglichene Balance in der Mitte anzustreben, die die eigenen Bedürfnisse berücksichtigt und gleichzeitig den anderen Menschen nicht aus dem Auge verliert.

 

  1. In den Körper hinein spüren und Zentrierung üben

Bevor eine Klientin wie Barbara irgendetwas im Außen ändern kann, muss sie zuerst den Zugang zu sich selbst finden. Dies erfolgt über das Hineinspüren in den eigenen Körper, während der Kontakt zum Therapeuten/zu mir aufrecht erhalten wird. Dies ist schon eine der größten Herausforderungen für Menschen, die es gewohnt sind, dass ihre eigenen Bedürfnisse „verschwinden“ sobald ein andere Mensch in der Nähe ist. Verschiedene Zentrierungs-Übungen, wie ich sie auch in meinem Buch beschreibe, helfen dabei. Zentrierung bedeutet, das eigene Zentrum (und somit sich selbst) zu spüren. Übersetzt heißt es so viel wie Selbstgespür oder Selbstwahrnehmung. Das körperliche Zentrum liegt in unserer tiefen Bauchgegend, wenn wir damit verbunden sind, stärkt sich unsere Wahrnehmung für uns selbst. Das ist die Basis für die Wahrnehmung unserer Bedürfnisse und Emotionen. Hier gilt eine einfache Grundregel: Bedürfnis erfüllt = positive Emotion, Bedürfnis nicht erfüllt (vermeintlich) negative Emotion. Vermeintlich negativ deshalb, weil jede Emotion auf ein Bedürfnis hindeutet und somit gar nicht negativ sein kann. Was negativ ist, ist lediglich unsere Bewertung, die wir dem Gefühl überstülpen. So ordnen wir Wut vielleicht als negatives oder nicht erlaubtes Gefühl ein, wenn uns aber bewusst wird, dass wir immer dann Wut empfinden, wenn unsere Grenzen überschritten wurden, ist sie durchaus notwendig und gut als Signal, um sich zukünftig besser abgrenzen zu können.

 

  1. Körperliche, emotionale und mentale Ebene (=Kopf) verbinden

„Mentalisierung“ ist das Stichwort. Was so viel bedeutet wie, die Körperempfindungen und Emotionen benennen zu können und sich dann auf die Suche nach dem dahinterliegenden Bedürfnis zu machen, um dieses dann ebenfalls auf die mentale Ebene zu holen, indem es ausgesprochen wird. Was anfangs noch mit Unterstützung des Therapeuten passiert, wird später zu einem inneren Dialog des Klienten. Er erkennt es erstmal für sich selbst, um dann die Hürde zu überwinden, dies ohne Angst anderen Menschen gegenüber auszusprechen bzw. dafür einzustehen.

 

  1. Spiegeln durch den Coach

Im Coach-Klienten-Verhältnis halte ich dem Klienten immer wieder den Spiegel vor bzgl. seiner Bedürfnisse. Bei diesem Schritt geht es darum, zu heilen, was der Klient als Baby von seinen Bezugspersonen nicht erfahren hat. Ich bestätige Barbara, dass sie ein Recht auf Bedürfniserfüllung hat. Z. B. durch folgende Sätze:

  • „Du hast ein Recht auf deine Bedürfnisse. Kannst du sehen, dass ich darauf Rücksicht nehme?“
  • „Deine Bedürfnisse sind ein natürlicher Teil von dir. Es ist „artgerecht“ auf sie zu achten.“
  • „Du kannst ja oder nein sagen zu den Angeboten, die ich dir hier mache.“
  • „Wir können jederzeit eine Pause machen, wenn du eine brauchst. Ich nehme Rücksicht auf deinen Rhythmus.“
  • „Ich werde deine Grenzen respektieren.“

 

Dem ein oder anderen Klienten haben diese Aussagen schon die Tränen in die Augen getrieben, weil  sie diese Erfahrung sooo selten erlebt haben.

Zusätzlich dazu frage ich viel danach, ob es der Klient bequem hat und was er noch braucht, um sich hier bei mir wohlzufühlen. Das kann ein Kissen unter den Füßen, eine kuschelige Decke oder ein warmer Tee sein. Außerdem teile ich ihm auch mit, dass es eine Freude für mich ist, wenn ich sehe, wie er auf sich achtet.

 

  1. Körper- und Muskelübungen
  • Jede Art von Zentrierungsübung. Z. B. die „Centerlining-Übung“ aus meinem Buch.
  • Übungen, um die Haut- und Körpergrenze zu spüren. Damit der Klient zukünftig unterscheiden kann zwischen Innen und Außen und „meinem“ und „deinem“ Bedürfnis. Auch zur Auflösung von verschmelzendem Kontakt ist dies wichtig. Das geht z. B. durch Abklopfen oder Abstreichen des ganzen Körpers. Aber auch, indem man unter der Dusche die Grenze zwischen der Haut und dem Wasser spürt. Dazu passt der Satz: „Das bin ich und das ist meine Grenze.“
  • Mit den Armen Gegenstände zu sich ziehen (dabei wird die Bedürfnismuskulatur aus der Bodynamic aktiviert) und dabei z. B. sagen: „Ich nehme mir, was ich brauche!“

 

  1. Hausaufgaben

Sehr oft gebe ich meinen Klienten Einladungen/Aufgaben/Übungen mit, die sie machen dürfen, um ihrer Entfaltung etwas Gutes zu tun. Ideale Aufgaben für die verzweifelte Position sind alle oben genannten Übungen und folgende:

  • „Ich-brauche-Sätze“ formulieren. Dabei die Betonung auf das „ich“ legen.
  • Eine Bedürfnis-Liste schreiben
  • Freundesliste schreiben und darauf untersuchen, von welchen Freunden man sich am ehesten ausgenutzt fühlt und selten bis nie etwas zurückbekommt

 

  1. Mentalisieren

Das Mentalisieren ist ein Prozess des „Nach-oben-holens“ auf unsere mentale Ebene, die Ebene des Neokortex. Wenn das im Coaching oder in den Übungen Erlebte dort besprochen und verstanden wird, wird zum einen die Kopf-Körper-Verbindung gefördert, zum anderen werden die erlebten körperlichen Prozesse und damit einhergehenden Erkenntnisse handhabbar und auch übertragbar gemacht auf reale Situationen. Wie bereits erwähnt, gilt die entwicklungspsychologisch richtige Reihenfolge: erst Körperarbeit, dann mentale Arbeit!

 

  1. Transfer

Schritt 1 – 7 scheinen für dich auf den ersten Blick vielleicht weit entfernt von den Führungsfähigkeiten, die sich Barbara wünscht. Die möglichen Effekte einer starken Dysbalance im Geben und Nehmen habe ich in der Anfangsgeschichte sichtbar gemacht. Ein coachingtechnisches „Herumdoktern“ an diesen Führungssymptomen auf der Verhaltensebene macht, ich mag es immer wieder betonen, wenig Sinn. Was es nach den Körperübungen und der mentalen Arbeit braucht ist, dass die Aha-Effekte, gefundenen Zustände und Einsichten auf konkrete Situationen übertragen werden und Barbara sich im Führungsalltag daran erinnern kann. Sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Körper! Dies könnte sich dann z. B. so anhören:

  • „Ich kann inzwischen viel besser spüren, wann ich eine Pause brauche und gönne sie mir öfter denn je!“
  • „Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr, wenn andere einen Dienst mehr von mir zugewiesen bekommen.“
  • „Ich kann nein sagen und mich besser abgrenzen.“

 

Abschließend möchte ich noch auf eine gesellschaftliche Tendenz eingehen, die ich beobachte wohlwissend dieses Thema und meine Kritik daran hier nicht vollumfänglich ausdiskutieren zu können. Ich beobachte eine sich steigernde Glorifizierung des Altruismus (= das Streben, für andere da zu sein) in dieser Welt. Eine Mutter Theresa wurde u.a. wegen ihrer Selbstaufopferungsbereitschaft heiliggesprochen, während Menschen, die einen gesunden Egoismus oder wie ich es nenne, ein gesundes Selbstinteresse an den Tag legen, oft argwöhnisch beäugt werden. Ich appelliere an jeden Leser dieses Blogs: Lass dich nicht von dir selbst abbringen, steh für dich und deine Bedürfnisse ein, auch wenn du eine Führungsposition inne hast und verliere gleichzeitig die anderen Menschen nicht aus dem Blick.

 

Führung sollte als Dienst am Mitarbeiter und Unternehmen verstanden werden, aber jede Führungskraft sollte für sich (und als Vorbild für ihre Mitarbeiter) erkennen wo die gesunde Grenze verläuft, an der es ins zu viel des Guten kippt!